Zu passe vite (H.g. 2009)
Das Passevite ist ein Haushaltgerät, das im täglichen Leben der Essenzubereitung dient – eine Nahrungsmühle, ein Trichter mit Drehkurbel an deren unterem Ende eine Dreiviertelscheibe mit aufgebogener Öffnung über einem Lochsieb dreht, alles Ganze erfasst, durch das Sieb presst und in einfach zu kochende Partikel zerlegt. Was einmal eine ganze Kartoffel war, wird zu amorphem Mus. Der pürierte Brei kann unter Zugabe von Flüssigkeit bis zur Unsichtbarkeit aufgelöst werden, wobei seine Essenz weiterhin wirksam bleibt. Mit anderen Zutaten versetzt wird er knetbar und setzt dem Formtrieb kaum Grenzen, bevor er durch uns verzehrt und abermals eine Wandlung durchläuft.
Passevite ist eine Durchgangsstation: Passage, passer, Le pas, la passée, passeport und vite - vite! vita, vitae, La vie, fallen mir dazu ein.
In Deutschland heisst das Passevite Flotte Lotte. In Frankreich auch Passetout. Ob „vite“ oder „tout“, schnell muss es gehen und - wie der Name verspricht - alles passieren, durchpressen können.
Passevie: In kleinen Schrittchen vergeht das Leben – vite, vite! Passevite ist ein Ausruf, ein Imperativ. Wenn sich etwas in den Trichter Gefallenes jedoch nicht mehr so schnell und problemlos durchsieben lässt, den normierenden Löchern zu gross ist, seiner Härte wegen sich jeder Pürierung verweigert - verklemmt, blockiert das drehende Lebensrad der Fortuna: Stillstand.
Manchmal möchte ich das Räderwerk anhalten, einen Schritt unterbrechen, eine Zäsur einschalten – wie beim Filmriss hinge der Fuss in der Luft - bevor er wieder die Erde berühren würde um zum nächsten „pas“ abzuheben.
Beim Kritzeln, Schaben, Zeichnen, Malen gelingt es mir zuweilen, das Licht einzufrieren. Die Zeit verliert ihre Sekunden, scheint sich zu verflüchtigen. Aus dem Leeren tauchen vage Bilder, bruchstückartige Filmsequenzen von Erlebnissen, Empfindungen auf. Auge und Hand malen, während das Ohr die Musik hört, die den Raum ausweitet und Gedanken kreisen.
Der Zyklus PasseVite ist eine ungenaue, persönliche, fragmenthafte Sicht auf die Zeit zwischen 1987 und 2001. Im Unterschied zu andern entstandenen Zyklen arbeitete ich hier oft mit rasch trocknenden Industrielacken (Acryl- oder Alkydharz), die mich zu einer schnellen, fast automatischen Zeichensetzung zwangen: ça passe vite. Später überarbeitete ich die so entstandenen Bilder, die mir dann als Katalysatoren dienten, Gedanken an Erlebtes, Vergangenes und zukünftig Mögliches in Gang zu bringen: Reflexionen zum schnell vorüberziehenden Leben, Gedanken über Liebe, Geburt, Heranwachsen, Vergänglichkeit und Tod - Passe Vie. Das Über- und Ummalen war für mich eine notwendige „Zeitbremse“, die es mir ermöglichte, glücklichen Momenten ein wenig mehr Dauer zu verleihen oder Bedrückendes in alle Richtungen zu kneten, bis etwas von seiner Schwere in atavistischer Weise gebannt werden konnte. In diesem Sinne sind die PasseVite Arbeiten Momentaufnahmen, Samplings eines Prozesses.
Passevite ist eine Durchgangsstation: Passage, passer, Le pas, la passée, passeport und vite - vite! vita, vitae, La vie, fallen mir dazu ein.
In Deutschland heisst das Passevite Flotte Lotte. In Frankreich auch Passetout. Ob „vite“ oder „tout“, schnell muss es gehen und - wie der Name verspricht - alles passieren, durchpressen können.
Passevie: In kleinen Schrittchen vergeht das Leben – vite, vite! Passevite ist ein Ausruf, ein Imperativ. Wenn sich etwas in den Trichter Gefallenes jedoch nicht mehr so schnell und problemlos durchsieben lässt, den normierenden Löchern zu gross ist, seiner Härte wegen sich jeder Pürierung verweigert - verklemmt, blockiert das drehende Lebensrad der Fortuna: Stillstand.
Manchmal möchte ich das Räderwerk anhalten, einen Schritt unterbrechen, eine Zäsur einschalten – wie beim Filmriss hinge der Fuss in der Luft - bevor er wieder die Erde berühren würde um zum nächsten „pas“ abzuheben.
Beim Kritzeln, Schaben, Zeichnen, Malen gelingt es mir zuweilen, das Licht einzufrieren. Die Zeit verliert ihre Sekunden, scheint sich zu verflüchtigen. Aus dem Leeren tauchen vage Bilder, bruchstückartige Filmsequenzen von Erlebnissen, Empfindungen auf. Auge und Hand malen, während das Ohr die Musik hört, die den Raum ausweitet und Gedanken kreisen.
Der Zyklus PasseVite ist eine ungenaue, persönliche, fragmenthafte Sicht auf die Zeit zwischen 1987 und 2001. Im Unterschied zu andern entstandenen Zyklen arbeitete ich hier oft mit rasch trocknenden Industrielacken (Acryl- oder Alkydharz), die mich zu einer schnellen, fast automatischen Zeichensetzung zwangen: ça passe vite. Später überarbeitete ich die so entstandenen Bilder, die mir dann als Katalysatoren dienten, Gedanken an Erlebtes, Vergangenes und zukünftig Mögliches in Gang zu bringen: Reflexionen zum schnell vorüberziehenden Leben, Gedanken über Liebe, Geburt, Heranwachsen, Vergänglichkeit und Tod - Passe Vie. Das Über- und Ummalen war für mich eine notwendige „Zeitbremse“, die es mir ermöglichte, glücklichen Momenten ein wenig mehr Dauer zu verleihen oder Bedrückendes in alle Richtungen zu kneten, bis etwas von seiner Schwere in atavistischer Weise gebannt werden konnte. In diesem Sinne sind die PasseVite Arbeiten Momentaufnahmen, Samplings eines Prozesses.
Aus L.S. (h.g. 2010)
Bildnerische Tätigkeit ist für mich einerseits ein herausforderndes, spannendes, zweckfreies Spiel, bei dem ich ohne Fremdbestimmung, auch ohne grossen technischen Aufwand mit immanenten Sachzwängen, sehr direkt mit meinen Händen schaffen, löschen, verändern, neu entwerfen oder mit einem einzigen Strich einen stabilen Kontext ins Wanken bringen kann. Anderseits ermöglicht mir die Tätigkeit – wie schon in den Gedanken zu „PasseVite“ ausgedrückt - Versenkung, Träume, mentale Aktivität, die mir Zeit und Raum öffnet um Leben zu reflektieren und - vielleicht auch andere und mich selbst zu finden. Sicher spielt hier auch das originäre menschliche Bedürfnis mit, sich auszudrücken. Die Frage nach Kommunikation ist dabei nicht vorrangig. Also arbeite ich für die Schublade? Dazu habe ich einen interessanten Textausschnitt von Barnett Newman gefunden ( aus: „The First Man Was an Artiste“, in: „Tiger’s Eye“, New York,1,1, Oktober 1947, S 57-60, übersetzt):
„....Des Menschen erster Ausdruck war ein ästhetischer Ausdruck, wie auch sein erster Traum. Das Sprechen war ein poetischer Schrei ohne Anspruch auf Kommunikation. Der Urmensch stiess seine Konsonanten hervor aus Ehrfurcht und Wut über seinen tragischen Zustand, über seine Selbsterkenntnis und über seine Ohnmacht angesichts der Leere... Das Menschliche an der Sprache ist Literatur und nicht Kommunikation. Der erste Schrei war ein Lied; die erste sprachliche Begegnung mit dem Nachbarn ein Schrei aus Stärke und feierlicher Schwäche, nicht die Bitte um einen Schluck Wasser....“
Für mich hat eigenständiges, nicht konkurrenzierendes Arbeiten Priorität, auch wenn es abseits von kulturellen Normen und Trends steht. Marktkonforme Stildogmen widerstreben mir. Sie biedern sich an, indem sie des Rezipienten Bedürfnisbefriedigung nach Wiedererkennung und Schubladisierung oft zu stark entgegenkommen. Nicht selten behindern sie die eher aufs Experiment ausgerichtete freie Entfaltung und reflektieren den tatsächlichen Pluralismus unserer Zeit ungenügend.
Meine Arbeit ist lückenhaft, bruchstückhaft, diskontinuierlich, wie mein Leben. Durch Fragen, ob ich gegen- oder ungegenständlich oder überhaupt noch malen dürfe, lasse ich mich nicht einengen. Es gibt Phasen, in denen ich sehr nahe am Objekt arbeite, alles in meiner kleinen Welt implodiert, wo ich in schwierigen Zeiten nicht anders kann, als mich am unscheinbaren Objekt festzuklammern, mich in meine vier Wände zurückziehen muss, um mich zu sammeln, zu erden. Dann wieder Phasen, in denen sich das Objekt auflöst, verschwindet, wo Objekte nur noch Farbmaterie und Bildgrund sind oder nicht mehr sichtbar, nur noch akustisch als Arbeitsgeräusche ab Magnetband hörbar sind (Tonprotokolle L.S.).
Phasen oder Arbeitszyklen breche ich oft abrupt ab, weil mich neue Beobachtungen, Ereignisse, veränderte Lebenssituationen, andere Betrachtungsweisen beschäftigen. Vermeintlich abgeschlossene Zyklen habe ich aber manchmal nach Jahren, mit andern Erfahrungen und Erkenntnissen wieder aufgegriffen, als ob ich mich auf einer Spirale bewegen würde – so etwa der Zyklus „Lend-skab“, Landschaft, den ich hier mit Skizzen und Notizen etwas breiter wiedergebe.
„....Des Menschen erster Ausdruck war ein ästhetischer Ausdruck, wie auch sein erster Traum. Das Sprechen war ein poetischer Schrei ohne Anspruch auf Kommunikation. Der Urmensch stiess seine Konsonanten hervor aus Ehrfurcht und Wut über seinen tragischen Zustand, über seine Selbsterkenntnis und über seine Ohnmacht angesichts der Leere... Das Menschliche an der Sprache ist Literatur und nicht Kommunikation. Der erste Schrei war ein Lied; die erste sprachliche Begegnung mit dem Nachbarn ein Schrei aus Stärke und feierlicher Schwäche, nicht die Bitte um einen Schluck Wasser....“
Für mich hat eigenständiges, nicht konkurrenzierendes Arbeiten Priorität, auch wenn es abseits von kulturellen Normen und Trends steht. Marktkonforme Stildogmen widerstreben mir. Sie biedern sich an, indem sie des Rezipienten Bedürfnisbefriedigung nach Wiedererkennung und Schubladisierung oft zu stark entgegenkommen. Nicht selten behindern sie die eher aufs Experiment ausgerichtete freie Entfaltung und reflektieren den tatsächlichen Pluralismus unserer Zeit ungenügend.
Meine Arbeit ist lückenhaft, bruchstückhaft, diskontinuierlich, wie mein Leben. Durch Fragen, ob ich gegen- oder ungegenständlich oder überhaupt noch malen dürfe, lasse ich mich nicht einengen. Es gibt Phasen, in denen ich sehr nahe am Objekt arbeite, alles in meiner kleinen Welt implodiert, wo ich in schwierigen Zeiten nicht anders kann, als mich am unscheinbaren Objekt festzuklammern, mich in meine vier Wände zurückziehen muss, um mich zu sammeln, zu erden. Dann wieder Phasen, in denen sich das Objekt auflöst, verschwindet, wo Objekte nur noch Farbmaterie und Bildgrund sind oder nicht mehr sichtbar, nur noch akustisch als Arbeitsgeräusche ab Magnetband hörbar sind (Tonprotokolle L.S.).
Phasen oder Arbeitszyklen breche ich oft abrupt ab, weil mich neue Beobachtungen, Ereignisse, veränderte Lebenssituationen, andere Betrachtungsweisen beschäftigen. Vermeintlich abgeschlossene Zyklen habe ich aber manchmal nach Jahren, mit andern Erfahrungen und Erkenntnissen wieder aufgegriffen, als ob ich mich auf einer Spirale bewegen würde – so etwa der Zyklus „Lend-skab“, Landschaft, den ich hier mit Skizzen und Notizen etwas breiter wiedergebe.
Aus dem skizzenbuch Abbildungen zum text lendskab
Zum Zyklus „Lend skab“ (Landschaft, L.S.) (H.G. 2010)
Meine erste analytische Auseinandersetzung mit der Ästhetik einer Landschaft verlief nicht über die Kunstgeschichte, sondern über architektonische Planungsprobleme an der ETH, wo die Dozenten Alfred Roth, Jaray und Hösli versuchten, uns unerfahrene Adepten für ein rücksichtsvolles Zwiegespräch zwischen Architektur und Natur zu sensibilisieren. Ich erinnere mich, wie wir über natürliche Räume, Gliederung und Sprache der Landschaft, Bauvolumina und natürliche Tektonik diskutierten und Entscheide von Baubehörden nicht verstanden, die grobe Terrassierungen zuliessen. Später, in kunstgeschichtlichen Studien, interessierte mich die Entwicklung der Landschaftsdarstellung von der untersten Stufe in der Hierarchie der darstellungswürdigen Motive des Trecentos hin zu einem spannenden und umfassenden Genre der Malerei. Obwohl mir bewusst wurde, wie vielfältig und weitläufig sich Ausdrucksmöglichkeiten und Experimentierfelder im Bereich Landschaft eröffnen, Landschaftsmalerei aber auch zum Topos von Galerien und Museen geworden ist, sich unzählige Bildtitel auf Orts- oder Landschaftsbezeichnungen beziehen und obwohl ich zu wissen glaubte, was unter Landschaft zu verstehen sei, wollte ich nicht einen Begriff verwenden, der mir plötzlich fragwürdig erschien.
Der Begriff Landschaft impliziert den Verweis auf etwas Gewalttätiges. Die Dichotomie Natur-Kultur schlägt hier durch: Sich Welt aneignen, bebauen, ausbeuten, sesshaft werden, setzen, sitzen, besitzen gehören dazu – kulturelle Leistungen, die auf den Übergang vom nomadisierenden Seth zum sesshaften Osiris verweisen. Sprachgeschichtlich betrachtet vollzieht sich im Wort Land ein Wandel vom freien Land zum beherrschten Gebiet. Etymologisch geht Land auf das indogermanische „*lendh“ - freies Land, Heide, Steppe, zurück, russisch „ljada“ – Rodland, schlechter Boden, tsch. „Lada“, schw. „linda“ – Brache. Im germ. bezeichnet Land Staatsgebiet, im M.A. Gebiet einheitlichen Rechts, Rechtsverband, der das Land bebauenden und beherrschenden Leute. Geht vielleicht das englische „to lend“ auf geliehenes Land zurück?
"Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen »Dies gehört mir« und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wieviel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Hütet euch, dem Betrüger Glaubenzu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört«." (Rousseau, 1750, Discours)
Im Wort Landschaft steckt auch das idg. „sqab“, „skap“, „skab“ – schaben, schneiden, kratzen, schnitzend gestalten, Geschabtes. Gr. skepton (skepton) - Stab (ist dies nicht das aus dem Zweig Geschnittene ?) skapos (skapos) – Zweig, lat. Scapus – Schaft, ahd. Skaft – Speer, „skaf“, „skaffan“ – schaben, aushöhlen, schöpfen, schaffen, „scape“, „shape“, „scapan“(old english) – engl. „create“, „form“, „ordain“...
In meinen früheren Arbeiten, den „synthetischen Landschaften“, sind zum Teil Empfindungen mit im Spiel, die auf Wahrnehmungen einer sich schnell verändernden Umwelt basieren. Als Angehörige der Nachkriegsgeneration erlebten wir seit den Fünfzigerjahren einen Wirtschaftsboom mit seinen Folgen: zunehmende Bevölkerungsdichte, steigende Ansprüche nach grösseren Wohnflächen, überhitzte Bautätigkeit (was auch zum Bundesbeschluss vom 13. März 1964 über die Bekämpfung der Teuerung durch Massnahmen auf dem Gebiete der Bauwirtschaft/Baustopp führte, 1965 vom Volk gutgeheissen wurde - und war auf persönlicher Ebene ein nicht unwesentlicher Grund, mich hinsichtlich des gewählten Berufsziels neu zu orientieren),sowie eine explodierende Mobilität.
Wo wir als Kinder Wiesen durchstreiften, uns an Hecken und Bäumen orientierten, beim Verschieben von Steinplatten darunterliegende Blindschleichen entdeckten und sie, auf Distanz gehend, als gefährliche Giftschlangen einstuften – ist heute alles überbaut; Lärmschutzwände, Asphalt dominieren und anstatt Giftschlangen beängstigen Autoschlangen jetzt die Kinder.
Der erhabene Schauer vor den in den letzten Strahlen aufglühenden Berggipfeln des St. Gotthards wird heute durch tiefer Liegendes ausgelöst: Blicke auf Tunneleingänge, auf Felsen fressende Monster, Kompressoren, Täler füllende Betonpisten, Blicke auf Schürfgebiete, auf eine Umwelt, die mit unserem wachsenden Appetit auf Rohstoffe tranchiert, ausgebaggert und geschabt wird.
Der L.S. Zyklus basiert auf persönlichen Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken und etymologischen Überlegungen, die ich gestalterisch interpretiere. Mir erscheint das in Landschaft enthaltene idg. Verb „*skab“ als eines der bedeutungsvollsten in der Genese der menschlichen Kultur und Zivilisation – ein Wende- oder ein Startpunkt. Mit dem Fruchtschnitt wird ein wilder Apfelbaum zu einem domestizierten, ertragreicheren Baum im Garten - durch Schnitt und Schaben wird aus einem Ast ein Pfeil.
Schaben bestimmt als zentraler Artefakt die L.S. Serie. Spachteln und ganz unterschiedliche Kratzutensilien treten an die Stelle des Pinsels, werden in ihrer Funktion zu Analogien der Begriffsbedeutung. Syntaktische Aspekte der Bildrealisierung verschieben sich zu semantischen Aspekten: Farbschicht sedimentiert über Farbschicht, palimsestartiges Schaben bringt zum Teil Älteres wieder zum Vorschein – der ganze Herstellungsprozess führt zu schrundigen, geschundenen Oberflächen, alles auf einem Maltuch aus grobem, fehlerhaftem Kampfanzugstoff (vergl.Bild oben: b) Abbildungen zum Text "Lend skab" - Abb.1 Farbauftrag). Das Bild ist hier nicht ein Fenster zur Natur (mimetisch), sondern ein Fenster über die Natur/Kultur, wo Druck und Gegendruck, Auftragen und Schürfen rivalisierend Chaos oder Gestalt erzeugen.
Anfänglich verlief der Prozess nicht geradlinig, ausser dass ich die eingeschlagene Richtung meiner Farbtechnik grundlegend beibehielt, diese jedoch mit unterschiedlichen Geräten und Verfahren (z.B. unterschiedliche Farbsubstanzen, Verdünnungen, Trocknungszeiten, Schichtdicken und Schichtfolgen, verschiedene Spachtelhärten, –grössen und Kratzinstrumente, Tellerschleifmaschine,...) experimentierend verfeinerte.
Der Bildfindung öffnete sich ein weites Feld von Möglichkeiten, von denen ich viele fallen liess – andere musste ich erproben, bis ich einsah, dass sie nicht weiterführten. Mit Hilfe des Computers war es mir möglich, Entwurfsvarianten heuristisch durchzuspielen, um Holzwege schnell als solche aufzuspüren (vergl.Bild oben: f) Aus dem Skizzenbuch 1992). Obwohl die nichtvirtuelle, direkte Auseinandersetzung mit dem Material aufwendiger war als die Arbeit am Mac, brachte sie mehr Erfahrung und Erkenntnis und stellte sich mental wie auch physisch als spannender und befriedigender heraus. Bei gewissen frühen Bildern der Serie sind noch gegenständliche Assoziationen und illusionistische Elemente erkennbar (vergl. die Bilder oben: a) und b) Abbildungen zum Text "Lend skab", Triptychen 1992/93), die zum Teil auf die Idee zurückgehen, Landschaft wortwörtlich als Land – Schaft (Schaft im Sinne von Scaft – Ausgehöhltes, Gestell, Schrank) zu interpretieren. Im Verb *skab steckt neben oben bereits erwähnten Bedeutungen „schälen, schöpfen“ auch „ordnen“ (Vergl. auch old engl. *scapan-shape im Sinne von ordain). Der Schrank ist ursprünglich etwas Ausgeschältes und schneidet zugleich aus dem Chaos des häuslich Angesammelten aus: Hier werden Objekte überschaubar eingeordnet und stehen untereinander in neuen Beziehungen. Im „Land –Schaft“ bestünde die Möglichkeit, Versatzstücke einer Landschaft, wie z.B. Wiesenstücke, Wasser-, Baum- oder Bergfragmente wie Trophäen im Kasten oder Ware in Supermarktregalen zu präsentieren, analog zu Bildern von Poussin, Lorrain, Rosa, Friedrich..., mit denen die Maler ebenso – zwar mit andern Vorzeichen, Ideen und Stilmitteln - Landschaftsversatzstücke, Idyllen oder feierlich gestimmte Natur in Szene setzten.
Die plattenartigen Bildelemente der früheren Arbeiten entstanden, abgesehen von Assoziationen zu Schrankteilen, auch assoziativ zu sequenzierten Räumen, Schiebekulissen einer Bühne, Schleusen, zersägten Felsen oder Fassaden einer potemkinschen Gegend. Alles ist auf einem Raster (vergl.im Bild oben: b) Abbildungen zum Text "Lend skab" - Abb.2 Grundraster) aus ganzzahligen Verhältnissen (Terzen, Quarten, Quinten, Oktaven) aufgebaut, die in der Ästhetik der Renaissancearchitektur oder in der Musik eine wesentliche Rolle einnehmen, hier aber nicht eigentlich zum Ausdruck kamen. Trotzdem behielt ich das präfigurative Kompositionsschema bei, weil dadurch die Option bestand, die Bilder ohne gravierende Anschlussprobleme, als Module zu grösseren Komplexen zu vereinen. Die illusionistischen Mittel liess ich später fallen. Anfänglich fungierten sie als Trompe-l’œil, als Auslöser des Eindrucks von Rissen, Verwerfungen, Platten im eigentlich flachen Tafelbild: Eine Idee, die Illusion der Raumtiefe – eine der tragenden Säulen des traditionellen Landschaftsbildes – dem näher tretenden Betrachter wieder zu entreissen.
Im Verlauf des L.S. - Prozesses verloren für mich Ausgangslage und ursprüngliche Intentionen zugunsten einer differenzierten Farberscheinung an Bedeutung. Das Interesse galt zunehmend den - je nach Schichtdicke, Schichtaufbau, Schabintensität - unterschiedlich absorbierenden und reflektierenden Lichtwirkungen der Farbmaterie und den raumgreifenden Eigenschaften der Farbklänge. Ich beabsichtigte ferner, einzelne Module zu grösseren Komplexen zu vereinen und so eine „offene Komposition“, eine letztendlich nie fertige Arbeit zu realisieren, deren Rhythmen, visuellen Flächengewichte und Farbharmonien individuell veränderbar sind. Abb. 8 (vergl.weiter oben im Bild: b) Abbildungen zum Text "Lend skab" ) zeigt die Möglichkeit einer Kompilation von 6 Elementen aus der Serie von 22 gleichartigen Modulen, die auf jeder Seite optische Anschlüsse bieten. Durch Permutationen ergäben sich bei dieser Anordnung 53'721'360 verschiedene Tafeln (Variation ohne Wiederholung n! / (n-k)! d.h. 22!/ 16!). Bei Zulassung einer Rotation um 180° wäre eine Wahl aus 1'181'869’920 zu treffen. Die Zahl der Möglichkeiten ist noch wesentlich grösser, wenn gleichzeitig mehrere Module gedreht und andere Drehungen gewählt würden.
Der Begriff Landschaft impliziert den Verweis auf etwas Gewalttätiges. Die Dichotomie Natur-Kultur schlägt hier durch: Sich Welt aneignen, bebauen, ausbeuten, sesshaft werden, setzen, sitzen, besitzen gehören dazu – kulturelle Leistungen, die auf den Übergang vom nomadisierenden Seth zum sesshaften Osiris verweisen. Sprachgeschichtlich betrachtet vollzieht sich im Wort Land ein Wandel vom freien Land zum beherrschten Gebiet. Etymologisch geht Land auf das indogermanische „*lendh“ - freies Land, Heide, Steppe, zurück, russisch „ljada“ – Rodland, schlechter Boden, tsch. „Lada“, schw. „linda“ – Brache. Im germ. bezeichnet Land Staatsgebiet, im M.A. Gebiet einheitlichen Rechts, Rechtsverband, der das Land bebauenden und beherrschenden Leute. Geht vielleicht das englische „to lend“ auf geliehenes Land zurück?
"Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen »Dies gehört mir« und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wieviel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Hütet euch, dem Betrüger Glaubenzu schenken; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört«." (Rousseau, 1750, Discours)
Im Wort Landschaft steckt auch das idg. „sqab“, „skap“, „skab“ – schaben, schneiden, kratzen, schnitzend gestalten, Geschabtes. Gr. skepton (skepton) - Stab (ist dies nicht das aus dem Zweig Geschnittene ?) skapos (skapos) – Zweig, lat. Scapus – Schaft, ahd. Skaft – Speer, „skaf“, „skaffan“ – schaben, aushöhlen, schöpfen, schaffen, „scape“, „shape“, „scapan“(old english) – engl. „create“, „form“, „ordain“...
In meinen früheren Arbeiten, den „synthetischen Landschaften“, sind zum Teil Empfindungen mit im Spiel, die auf Wahrnehmungen einer sich schnell verändernden Umwelt basieren. Als Angehörige der Nachkriegsgeneration erlebten wir seit den Fünfzigerjahren einen Wirtschaftsboom mit seinen Folgen: zunehmende Bevölkerungsdichte, steigende Ansprüche nach grösseren Wohnflächen, überhitzte Bautätigkeit (was auch zum Bundesbeschluss vom 13. März 1964 über die Bekämpfung der Teuerung durch Massnahmen auf dem Gebiete der Bauwirtschaft/Baustopp führte, 1965 vom Volk gutgeheissen wurde - und war auf persönlicher Ebene ein nicht unwesentlicher Grund, mich hinsichtlich des gewählten Berufsziels neu zu orientieren),sowie eine explodierende Mobilität.
Wo wir als Kinder Wiesen durchstreiften, uns an Hecken und Bäumen orientierten, beim Verschieben von Steinplatten darunterliegende Blindschleichen entdeckten und sie, auf Distanz gehend, als gefährliche Giftschlangen einstuften – ist heute alles überbaut; Lärmschutzwände, Asphalt dominieren und anstatt Giftschlangen beängstigen Autoschlangen jetzt die Kinder.
Der erhabene Schauer vor den in den letzten Strahlen aufglühenden Berggipfeln des St. Gotthards wird heute durch tiefer Liegendes ausgelöst: Blicke auf Tunneleingänge, auf Felsen fressende Monster, Kompressoren, Täler füllende Betonpisten, Blicke auf Schürfgebiete, auf eine Umwelt, die mit unserem wachsenden Appetit auf Rohstoffe tranchiert, ausgebaggert und geschabt wird.
Der L.S. Zyklus basiert auf persönlichen Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken und etymologischen Überlegungen, die ich gestalterisch interpretiere. Mir erscheint das in Landschaft enthaltene idg. Verb „*skab“ als eines der bedeutungsvollsten in der Genese der menschlichen Kultur und Zivilisation – ein Wende- oder ein Startpunkt. Mit dem Fruchtschnitt wird ein wilder Apfelbaum zu einem domestizierten, ertragreicheren Baum im Garten - durch Schnitt und Schaben wird aus einem Ast ein Pfeil.
Schaben bestimmt als zentraler Artefakt die L.S. Serie. Spachteln und ganz unterschiedliche Kratzutensilien treten an die Stelle des Pinsels, werden in ihrer Funktion zu Analogien der Begriffsbedeutung. Syntaktische Aspekte der Bildrealisierung verschieben sich zu semantischen Aspekten: Farbschicht sedimentiert über Farbschicht, palimsestartiges Schaben bringt zum Teil Älteres wieder zum Vorschein – der ganze Herstellungsprozess führt zu schrundigen, geschundenen Oberflächen, alles auf einem Maltuch aus grobem, fehlerhaftem Kampfanzugstoff (vergl.Bild oben: b) Abbildungen zum Text "Lend skab" - Abb.1 Farbauftrag). Das Bild ist hier nicht ein Fenster zur Natur (mimetisch), sondern ein Fenster über die Natur/Kultur, wo Druck und Gegendruck, Auftragen und Schürfen rivalisierend Chaos oder Gestalt erzeugen.
Anfänglich verlief der Prozess nicht geradlinig, ausser dass ich die eingeschlagene Richtung meiner Farbtechnik grundlegend beibehielt, diese jedoch mit unterschiedlichen Geräten und Verfahren (z.B. unterschiedliche Farbsubstanzen, Verdünnungen, Trocknungszeiten, Schichtdicken und Schichtfolgen, verschiedene Spachtelhärten, –grössen und Kratzinstrumente, Tellerschleifmaschine,...) experimentierend verfeinerte.
Der Bildfindung öffnete sich ein weites Feld von Möglichkeiten, von denen ich viele fallen liess – andere musste ich erproben, bis ich einsah, dass sie nicht weiterführten. Mit Hilfe des Computers war es mir möglich, Entwurfsvarianten heuristisch durchzuspielen, um Holzwege schnell als solche aufzuspüren (vergl.Bild oben: f) Aus dem Skizzenbuch 1992). Obwohl die nichtvirtuelle, direkte Auseinandersetzung mit dem Material aufwendiger war als die Arbeit am Mac, brachte sie mehr Erfahrung und Erkenntnis und stellte sich mental wie auch physisch als spannender und befriedigender heraus. Bei gewissen frühen Bildern der Serie sind noch gegenständliche Assoziationen und illusionistische Elemente erkennbar (vergl. die Bilder oben: a) und b) Abbildungen zum Text "Lend skab", Triptychen 1992/93), die zum Teil auf die Idee zurückgehen, Landschaft wortwörtlich als Land – Schaft (Schaft im Sinne von Scaft – Ausgehöhltes, Gestell, Schrank) zu interpretieren. Im Verb *skab steckt neben oben bereits erwähnten Bedeutungen „schälen, schöpfen“ auch „ordnen“ (Vergl. auch old engl. *scapan-shape im Sinne von ordain). Der Schrank ist ursprünglich etwas Ausgeschältes und schneidet zugleich aus dem Chaos des häuslich Angesammelten aus: Hier werden Objekte überschaubar eingeordnet und stehen untereinander in neuen Beziehungen. Im „Land –Schaft“ bestünde die Möglichkeit, Versatzstücke einer Landschaft, wie z.B. Wiesenstücke, Wasser-, Baum- oder Bergfragmente wie Trophäen im Kasten oder Ware in Supermarktregalen zu präsentieren, analog zu Bildern von Poussin, Lorrain, Rosa, Friedrich..., mit denen die Maler ebenso – zwar mit andern Vorzeichen, Ideen und Stilmitteln - Landschaftsversatzstücke, Idyllen oder feierlich gestimmte Natur in Szene setzten.
Die plattenartigen Bildelemente der früheren Arbeiten entstanden, abgesehen von Assoziationen zu Schrankteilen, auch assoziativ zu sequenzierten Räumen, Schiebekulissen einer Bühne, Schleusen, zersägten Felsen oder Fassaden einer potemkinschen Gegend. Alles ist auf einem Raster (vergl.im Bild oben: b) Abbildungen zum Text "Lend skab" - Abb.2 Grundraster) aus ganzzahligen Verhältnissen (Terzen, Quarten, Quinten, Oktaven) aufgebaut, die in der Ästhetik der Renaissancearchitektur oder in der Musik eine wesentliche Rolle einnehmen, hier aber nicht eigentlich zum Ausdruck kamen. Trotzdem behielt ich das präfigurative Kompositionsschema bei, weil dadurch die Option bestand, die Bilder ohne gravierende Anschlussprobleme, als Module zu grösseren Komplexen zu vereinen. Die illusionistischen Mittel liess ich später fallen. Anfänglich fungierten sie als Trompe-l’œil, als Auslöser des Eindrucks von Rissen, Verwerfungen, Platten im eigentlich flachen Tafelbild: Eine Idee, die Illusion der Raumtiefe – eine der tragenden Säulen des traditionellen Landschaftsbildes – dem näher tretenden Betrachter wieder zu entreissen.
Im Verlauf des L.S. - Prozesses verloren für mich Ausgangslage und ursprüngliche Intentionen zugunsten einer differenzierten Farberscheinung an Bedeutung. Das Interesse galt zunehmend den - je nach Schichtdicke, Schichtaufbau, Schabintensität - unterschiedlich absorbierenden und reflektierenden Lichtwirkungen der Farbmaterie und den raumgreifenden Eigenschaften der Farbklänge. Ich beabsichtigte ferner, einzelne Module zu grösseren Komplexen zu vereinen und so eine „offene Komposition“, eine letztendlich nie fertige Arbeit zu realisieren, deren Rhythmen, visuellen Flächengewichte und Farbharmonien individuell veränderbar sind. Abb. 8 (vergl.weiter oben im Bild: b) Abbildungen zum Text "Lend skab" ) zeigt die Möglichkeit einer Kompilation von 6 Elementen aus der Serie von 22 gleichartigen Modulen, die auf jeder Seite optische Anschlüsse bieten. Durch Permutationen ergäben sich bei dieser Anordnung 53'721'360 verschiedene Tafeln (Variation ohne Wiederholung n! / (n-k)! d.h. 22!/ 16!). Bei Zulassung einer Rotation um 180° wäre eine Wahl aus 1'181'869’920 zu treffen. Die Zahl der Möglichkeiten ist noch wesentlich grösser, wenn gleichzeitig mehrere Module gedreht und andere Drehungen gewählt würden.
Von Inseln und Gefässen
EINFÜHRENDE WORTE ZUR AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG "BEGEGNUNG" BLUE POINT ART GALLERY, MEGGEN (LUZERN), 2.NOV. - 22.DEZ.95
Im Gegensatz zu kreativer Musik lenken mich gesprochene Texte ab denen ich während meiner bildnerischen Tätigkeit zuhören muss - Worte stören mich. Gelingt es mir jedoch, die anfänglich wagen Bildvorstellungen herausschälend, verdichtend zu materialisieren, wird es mir in einer späteren Phase möglich, über einige Ausgangspunkte oder gedankliche Querverbindungen zu sprechen.
So kann ich Ihnen, geschätzte Anwesende, wenige Anknüpfungspunkte mit auf den Rundgang geben, was aber nicht heisst, so und nicht anders müssen Sie Adrian Knüsels Plastiken oder meine Bilder sehen - zumal bildnerische Produkte sich nur annähernd in Worte fassen lassen, in ihren eigengesetzlichen Ausdrucksmöglichkeiten und Logik eher dem von Lévi-Strauss formulierten pensée sauvage entsprechen. Rezeption ist ein kreativer Akt und so werden Sie eigene Verbindungen zwischen den Werken oder zwischen den Werken und Ihnen finden, so dass vielleicht eine Kommunikation zustande kommt, die jedoch nur mit wenigen, bewusst gewählten Ausnahmen (Bildtitel, verbale Texte im Bild), über einschränkende Kanäle verbaler Konventionen fliessen dürfte.
Malen ist für mich ein Prozess, bei dem häufig Zeit und Raum verschwinden, Spiel und Experiment, Versinken und Auftauchen, bei dem Erlebnisse eidetisch nachempfunden und in bildnerische Produktion umgesetzt werden können.
Ein Beispiel: Nach langen vergeblichen Versuchen - angeregt durch Adrian Knüsel - einen auf der Töpferscheibe rotierenden, wild um sich schlagenden Klumpen Ton ruhig zwischen meinen Händen zu zentrieren, kam nach mehreren Stunden des frustrierenden Ringens plötzlich der Moment, wo meine Kräfte und jene der sich drehenden Masse völlig eins waren. Dieses nicht in Worte zu fassende, glückliche Erlebnis, habe ich bei Bild 4,5 u.6 wieder aufsteigen lassen und versucht einen adäquaten bildnerischen Ausdruck zu schaffen.
Malen heisst für mich Zeichen finden und sie im Gefäss des Zeichenrepertoirs sammeln. Die durch viele mögliche Permutationen entstehenden neuen Anordnungen der Zeichen verändert deren Kräfte und ihr Potential - einem Schachspiel vergleichbar, bei dem jeder neue Zug den ganzen Kontext verschiebt. Malen ist für mich jedoch auch Innehalten und Nachdenken über die Spielsituation im Bild und über den Bildrand hinaus, über meine Situation, über zwischenmenschliche Beziehungen, gesellschaftliche Prozesse, Nachdenken über altes kollektives Gedankengut, nicht um Mythen zu zementieren, sondern sie im jetzigen Licht zu befragen. Als mich Adrian Knüsel für diese gemeinsame Ausstellung anfragte, hatte ich meine 39. grosse "LENDH-SKAB" (Landschaft) eingerollt und arbeitete ziemlich isoliert an einer Serie von kleineren Inselbildern: einerseits Gedanken- und Vorstellungsinseln, die aus dem Nebelmeer meiner Erinnerungen an durchlebte Situationen ganz klar herausragten, anderseits Inseln als geographisch festgelegte Orte, die ich besucht habe. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich zu näheren Besprechungen in Adrians Atelier fuhr, unterbrach ich kurz meine Arbeit an den Kreta-Bildern. Seit längerer Zeit beschäftigten mich die Mythen um Apollo und Daphne, von Pasiphae und Glaukos, sein Tod im Gefäss und seine Wiederbelebung durch die heilenden Blätter - Plots, die auch im Gilgamesch Epos oder Märchen aus andern Kulturkreisen zu finden sind. Das Lorbeerblatt, bei orgiastischen Kultusmysterien von den Mänaden zur Erzeugung von Rauschzuständen gekaut, stand als Form und Bedeutungsträger im Mittelpunkt meiner bildnerischen Untersuchungen. Ich betrat also gegen Abend Adrians Atelier - kannte seine neuen Arbeiten noch nicht - da standen die Gefässe, die Sie hier in den Holzrahmen oder auf dem Boden stehend sehen, dicht aneinandergereiht auf dem Tisch, Spitzen auf Augenhöhe, mir bedrohlich gegenüber. In meinen Notizen vom selben Abend steht - In Wiederholung im Halbdunkel der Werkstatt, präzis abgedrehte Körper, eisige Kälte, in Reih und Glied aufgestellt, erinnern sie an industrielle Produktion, an die Härte von Stahl, an todbringende Granaten - ein Waffenarsenal, als ob sie mehr fürs Fliegen und Einrammen, als fürs Stehen konzipiert seien.
.... Muss ein Gefäss stehen? Auch die Amphora wurde in sandigen Boden eingesteckt... Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Adrians Form ist für mich das um die Mittelachse rotierte Lorbeerblatt, die Mandorla, Daphoine „die Blutige“, die sich auf unblutige Weise den Nachstellungen des Apollon im Lorbeer entzieht. Aphanes, Fade out.
Das sich Entziehen der Daphne ist für mich auch Metapher für die Trennung vom Aussen zum Innen, die Abspaltung des Geistigen vom Leiblichen.
Der Stuhl als Gefäss - Das Gefäss als Stuhl : Obwohl wir heute mittels Rädern, Flügeln oder Internetsystemen scheinbar über die ganze Welt nomadisieren, hat unser Leib sich immer mehr im Stuhl gesetzt. Der Stuhl - auch wenn er sich als Auto- oder Flugzeugsitz beschleunigt - umklammert, umfasst unsern Körper wie das Gefäss den toten Glaukos. Mit Daphne entziehen wir unsern müde gewordenen Leib der sinnlichen physischen Welt, setzen ihn zuhause zunehmend ins bequeme Fauteuilgefäss, werden quasi zu Stuhlmenschen und fixieren den Raumöffner, der zwar nicht kreisrund wie bei Glaukos aber im Format 16:9 unsern Geist in den digitalen, fiktionalen Cyberspace entführt.
Auch wenn man bei Gefässen wie sie hier stehen von angewandter Kunst spricht, d.h. auch für den Gebrauch bestimmt, hat Adrian Knüsel mit ihnen einen starken Ausdruck, eine Zeichensprache entwickelt, die für mich von derselben Trennungslinie zwischen Geist und Materie spricht. Stehen seine früheren Gefässe wuchtig und schwer, Materie repräsentierend, weit geöffnet - dem Aufbewahren mehr spendend, als bergend dienend, noch fest auf dem Boden - so scheinen die neuesten Arbeiten im labilen Gleichgewicht zu sein. Wie die neuen Arbeiten, die hier teilweise als Einzelstücke in Holzzargen ausgestellt sind, verwandeln sie sich zu fragilen, sich zurückziehenden Blättern, die von jedem Windstoss fortgetragen werden könnten. Weiter hinten im dichten Gedränge, am Boden aufgestellt, könnten sie an bedrohliche Produkte einer Waffenschmiede erinnern.
Der Schnittstelle zwischen Aussen und Innen misst Adrian Knüsel grosse Bedeutung zu. Durch Schleifen und Polieren treten faszinierende Materialstrukturen zum Vorschein und scheinen die schwere Materie der Gefässhülle nahezu aufzulösen.
Weil meine „Scraped landscape" (Lend Skab) - Bilder durch das Spachteln und Abschaben eine ähnliche Oberflächenbeschaffenheit vermitteln, dachte Adrian zu Beginn unseres gemeinsamen Projekts diese zusammen mit seinen Gefässen zu zeigen. Wegen der Umstrukturierung der Galerie und der Grösse der Bilder mussten wir jedoch umdenken. Die Schabtechnik habe ich seinerzeit gewählt um den gewaltsamen Eingriff des Menschen in die gewachsene Natur sichtbar zu machen, der im Begriff „Land-Schaft“ steckt. Etymologisch führt das Wort Schaft zu Skapos - der geschälte Zweig - aber auch zu skaph: das Gehöhlte, das Gefäss. Hier berühren sich unsere Arbeiten erneut.
Zum Schluss möchte ich Frau Marbacher und Adrian Knüsel herzlich danken, dass sie mich aus meiner Inselwelt aufgeschreckt haben und Ihnen, liebe Gäste, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren.
Adligenswil, den 2.Nov.95, Hans Glanzmann
So kann ich Ihnen, geschätzte Anwesende, wenige Anknüpfungspunkte mit auf den Rundgang geben, was aber nicht heisst, so und nicht anders müssen Sie Adrian Knüsels Plastiken oder meine Bilder sehen - zumal bildnerische Produkte sich nur annähernd in Worte fassen lassen, in ihren eigengesetzlichen Ausdrucksmöglichkeiten und Logik eher dem von Lévi-Strauss formulierten pensée sauvage entsprechen. Rezeption ist ein kreativer Akt und so werden Sie eigene Verbindungen zwischen den Werken oder zwischen den Werken und Ihnen finden, so dass vielleicht eine Kommunikation zustande kommt, die jedoch nur mit wenigen, bewusst gewählten Ausnahmen (Bildtitel, verbale Texte im Bild), über einschränkende Kanäle verbaler Konventionen fliessen dürfte.
Malen ist für mich ein Prozess, bei dem häufig Zeit und Raum verschwinden, Spiel und Experiment, Versinken und Auftauchen, bei dem Erlebnisse eidetisch nachempfunden und in bildnerische Produktion umgesetzt werden können.
Ein Beispiel: Nach langen vergeblichen Versuchen - angeregt durch Adrian Knüsel - einen auf der Töpferscheibe rotierenden, wild um sich schlagenden Klumpen Ton ruhig zwischen meinen Händen zu zentrieren, kam nach mehreren Stunden des frustrierenden Ringens plötzlich der Moment, wo meine Kräfte und jene der sich drehenden Masse völlig eins waren. Dieses nicht in Worte zu fassende, glückliche Erlebnis, habe ich bei Bild 4,5 u.6 wieder aufsteigen lassen und versucht einen adäquaten bildnerischen Ausdruck zu schaffen.
Malen heisst für mich Zeichen finden und sie im Gefäss des Zeichenrepertoirs sammeln. Die durch viele mögliche Permutationen entstehenden neuen Anordnungen der Zeichen verändert deren Kräfte und ihr Potential - einem Schachspiel vergleichbar, bei dem jeder neue Zug den ganzen Kontext verschiebt. Malen ist für mich jedoch auch Innehalten und Nachdenken über die Spielsituation im Bild und über den Bildrand hinaus, über meine Situation, über zwischenmenschliche Beziehungen, gesellschaftliche Prozesse, Nachdenken über altes kollektives Gedankengut, nicht um Mythen zu zementieren, sondern sie im jetzigen Licht zu befragen. Als mich Adrian Knüsel für diese gemeinsame Ausstellung anfragte, hatte ich meine 39. grosse "LENDH-SKAB" (Landschaft) eingerollt und arbeitete ziemlich isoliert an einer Serie von kleineren Inselbildern: einerseits Gedanken- und Vorstellungsinseln, die aus dem Nebelmeer meiner Erinnerungen an durchlebte Situationen ganz klar herausragten, anderseits Inseln als geographisch festgelegte Orte, die ich besucht habe. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich zu näheren Besprechungen in Adrians Atelier fuhr, unterbrach ich kurz meine Arbeit an den Kreta-Bildern. Seit längerer Zeit beschäftigten mich die Mythen um Apollo und Daphne, von Pasiphae und Glaukos, sein Tod im Gefäss und seine Wiederbelebung durch die heilenden Blätter - Plots, die auch im Gilgamesch Epos oder Märchen aus andern Kulturkreisen zu finden sind. Das Lorbeerblatt, bei orgiastischen Kultusmysterien von den Mänaden zur Erzeugung von Rauschzuständen gekaut, stand als Form und Bedeutungsträger im Mittelpunkt meiner bildnerischen Untersuchungen. Ich betrat also gegen Abend Adrians Atelier - kannte seine neuen Arbeiten noch nicht - da standen die Gefässe, die Sie hier in den Holzrahmen oder auf dem Boden stehend sehen, dicht aneinandergereiht auf dem Tisch, Spitzen auf Augenhöhe, mir bedrohlich gegenüber. In meinen Notizen vom selben Abend steht - In Wiederholung im Halbdunkel der Werkstatt, präzis abgedrehte Körper, eisige Kälte, in Reih und Glied aufgestellt, erinnern sie an industrielle Produktion, an die Härte von Stahl, an todbringende Granaten - ein Waffenarsenal, als ob sie mehr fürs Fliegen und Einrammen, als fürs Stehen konzipiert seien.
.... Muss ein Gefäss stehen? Auch die Amphora wurde in sandigen Boden eingesteckt... Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Adrians Form ist für mich das um die Mittelachse rotierte Lorbeerblatt, die Mandorla, Daphoine „die Blutige“, die sich auf unblutige Weise den Nachstellungen des Apollon im Lorbeer entzieht. Aphanes, Fade out.
Das sich Entziehen der Daphne ist für mich auch Metapher für die Trennung vom Aussen zum Innen, die Abspaltung des Geistigen vom Leiblichen.
Der Stuhl als Gefäss - Das Gefäss als Stuhl : Obwohl wir heute mittels Rädern, Flügeln oder Internetsystemen scheinbar über die ganze Welt nomadisieren, hat unser Leib sich immer mehr im Stuhl gesetzt. Der Stuhl - auch wenn er sich als Auto- oder Flugzeugsitz beschleunigt - umklammert, umfasst unsern Körper wie das Gefäss den toten Glaukos. Mit Daphne entziehen wir unsern müde gewordenen Leib der sinnlichen physischen Welt, setzen ihn zuhause zunehmend ins bequeme Fauteuilgefäss, werden quasi zu Stuhlmenschen und fixieren den Raumöffner, der zwar nicht kreisrund wie bei Glaukos aber im Format 16:9 unsern Geist in den digitalen, fiktionalen Cyberspace entführt.
Auch wenn man bei Gefässen wie sie hier stehen von angewandter Kunst spricht, d.h. auch für den Gebrauch bestimmt, hat Adrian Knüsel mit ihnen einen starken Ausdruck, eine Zeichensprache entwickelt, die für mich von derselben Trennungslinie zwischen Geist und Materie spricht. Stehen seine früheren Gefässe wuchtig und schwer, Materie repräsentierend, weit geöffnet - dem Aufbewahren mehr spendend, als bergend dienend, noch fest auf dem Boden - so scheinen die neuesten Arbeiten im labilen Gleichgewicht zu sein. Wie die neuen Arbeiten, die hier teilweise als Einzelstücke in Holzzargen ausgestellt sind, verwandeln sie sich zu fragilen, sich zurückziehenden Blättern, die von jedem Windstoss fortgetragen werden könnten. Weiter hinten im dichten Gedränge, am Boden aufgestellt, könnten sie an bedrohliche Produkte einer Waffenschmiede erinnern.
Der Schnittstelle zwischen Aussen und Innen misst Adrian Knüsel grosse Bedeutung zu. Durch Schleifen und Polieren treten faszinierende Materialstrukturen zum Vorschein und scheinen die schwere Materie der Gefässhülle nahezu aufzulösen.
Weil meine „Scraped landscape" (Lend Skab) - Bilder durch das Spachteln und Abschaben eine ähnliche Oberflächenbeschaffenheit vermitteln, dachte Adrian zu Beginn unseres gemeinsamen Projekts diese zusammen mit seinen Gefässen zu zeigen. Wegen der Umstrukturierung der Galerie und der Grösse der Bilder mussten wir jedoch umdenken. Die Schabtechnik habe ich seinerzeit gewählt um den gewaltsamen Eingriff des Menschen in die gewachsene Natur sichtbar zu machen, der im Begriff „Land-Schaft“ steckt. Etymologisch führt das Wort Schaft zu Skapos - der geschälte Zweig - aber auch zu skaph: das Gehöhlte, das Gefäss. Hier berühren sich unsere Arbeiten erneut.
Zum Schluss möchte ich Frau Marbacher und Adrian Knüsel herzlich danken, dass sie mich aus meiner Inselwelt aufgeschreckt haben und Ihnen, liebe Gäste, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren.
Adligenswil, den 2.Nov.95, Hans Glanzmann
Zum Zyklus „Tonspuren“
Im Zyklus „Tonspuren“ beschäftigen mich einerseits die Spuren von Farbtönen, Farbtonwerten, Farbspuren, die sich je nach Auftragung oder Abwischen (Wahl des Werkzeugs - Lappen, Spachtel, Pinselbeschaffenheit, usw.) oder unterschiedlicher Zugabe von Verdünnungsmitteln ergeben, sowie Farbrhythmen, lauter und leiser werdende visuelle Farbklänge und Farbakkorde.
Anderseits sind für mich „Tonspuren“ auch Spuren , die beim Versuch entstehen, akustische Ereignisse wie Geräusche, Einzeltöne, Tonfolgen, Zusammenklänge, Harmonien oder Disharmonien, thematische Entwicklungen, Klangfarben, Takt, Tonalität, usw., die meine neuronalen Netze zu stimulieren vermögen, bildnerisch zu interpretieren - also Versuche, mit malerischen Mitteln auditive Empfindungen ins Visuelle zu transferieren.
„Tonspuren“ sind nicht als „écriture automatique“, aus dem blossen Zufall heraus entstanden, sondern aus dem Zu-Fallen des Gehörten.
Ist dies nun analog zum oft verpönten Begriff aus der Musik „Programmmusik“ „Programmmalerei“ ?
In der Musik gibt es unzählige Beispiele für das umgekehrte Vorgehen, wo also Komponisten bildhaft Erlebtes, Vorgestelltes, Empfindungen, Literatur oder durch Literatur evozierte Bilder als Inspiration in ihrer Tonsprache verarbeiten ohne dabei Programm-Musik zu schreiben, die dem Hörer Anleitungen vorgibt, was zu hören sei (oder genauer gemäss Peter Petersen über Programmmusik: ...Die Hörer sind zu aktivem Mitvollzug aufgerufen, indem sie sich beim Hören der Musik an einen Text erinnern sollen, oder beim Lesen eines Programms sich die gehörte Musik vorstellen können).
Der Begriff Programmmusik dürfte jedoch fliessend sein. In Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung“ sehe ich kein konkretes Bild von Samuel Goldenberg – ich höre eher etwas massig Grosses, in sich ruhendes Übermächtiges in Kontrast zum nervös, schmächtig, ängstlich, ohne geringstes Selbstvertrauen hoffendes und bettelndes Individuum Schmuyle. Die Musik empfinde ich hier nicht als Programm oder als platte Illustration, sondern eher als kreativ mögliche Aufdeckung von Wesentlichem, das unter der Oberfläche einer Begegnung zum Vorschein kommt. Oder – wie hat doch z.B. Schönberg im Auftragswerk in atonaler Musik ein faszinierendes Äquivalent für Girauds Gedichtzyklus „Pierrot Lunaire“ gefunden.
Es scheint verständlich, wenn Beethoven („...mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“), Mahler, Richard Strauss, Schostakovitsch oder andere mehr sich mit Satzbezeichnungen schwertun, abändern oder lieber aus politischen Gründen ganz weglassen, vielleicht auch aus Furcht, dem Rezipienten könnten andere vielschichtige Einflüsse, Empfindungen oder den der Musik inne liegenden, eigengesetzlichen Entwicklungen aus lauter Fixierung auf Benanntes verborgen bleiben. Die Entwicklung einer poetischen Sprache oder eines Textes (ob literarisch, musikalisch, visuell gestaltend,...) basiert in keiner Weise nur auf einem Begriff, wie z. B. eine eben erwähnte Satzbezeichnung. Die historische Entwicklung der Sprache, das Verlangen des Schaffenden, in einer neuen Zeit neue, adäquate Ausdrucksmittel zu finden – seine Lebenssituation, seine Erlebnisse, Erfahrungen, Empfindungen, seine physische und psychische Disposition, das sozioökonomische und politische Umfeld – all dies kann nicht ausgeklammert werden. Auch der „reine Weg“ - das „nicht Mimetische“, auf nichts andere Verweisende, das „Non relational“, die konkrete Poesie oder Malerei usw. können auf eine Haltung, auf einen Zeitgeist, vielleicht auf eine weltverändernde, utopische Heilsversprechung oder mathematische Konzeption verweisen.
Was auch immer den ersten Impuls zum ersten Strich auf dem weissen Blatt und in der Folge zur spielerischen oder auch zweifelbeladenen, intensiven Weiterbearbeitung führt – ist es das „je ne cherche pas, je trouve“, ein blosses Feuern der Synapsen oder der Ausdruck von starken Erlebnissen? Ist es eine Wutreaktion, eine zeitlich beschränkte Revolution des Malewitsch, der mit seinem schwarzen Quadrat nur noch die reine Empfindung will und jede Nähe zur gegenständlichen Kunst vehement bekämpft, im Spätwerk aber wieder zur Zeichensprache eines Renaissance Malers zurückfindet?
Manchmal ist sie einfach da – die erste Spur. Tonspuren kenne ich auch von den visuellen Umsetzungen von Schallereignissen am Rande des analogen Lichttonfilmstreifens oder von digitalen Tonschnittprogrammen am Computer. Mit einem solchen Programm sprach ich das Wort „Tonspur“ in unterschiedlichen Tonhöhen, Betonungen und Tempi ins Mikrofon, betrachte seine grafische Dekodierung am Bildschirm, dehne die Zeitachse (Timeline) und male die sichtbar gewordenen Linien von Frequenz- und Amplitudenausschlägen in starker Vergrösserung aufs Blatt, verwische und übermale .
Andere Tonspuren entstanden indem ich durch meinen CD-Player, auf Endlosschlaufe gestellt, ein Musikstück abspielen liess und hörte und lauschte und lauschte und hörte... bis ich die Farben, Pinsel oder Spachtel und den Rhythmus gefunden habe. In Analogie zu Debussys oft verwendeten Pentatonik und entsprechenden Tonschritten fertigte ich Zahnspachteln mit fünf Zähnen an, deren 4. Zahn gegenüber den andern die doppelte Breite hat. Der Analogieschluss war eigentlich banal, aber er setzte einen Prozess in Gang. Mit der Spachtel war ich gezwungen, schneller zu arbeiten, reagierte so spontaner auf das Musikerlebnis (wie in gewissen Bildern der Serie „PasseVite“ oder „courant d’air“ – das Kratzen in den schnelltrocknenden Industrielack). Schicht für Schicht entstanden Farbtonspuren, die infolge der Zähne, das darunter Liegende nur teilweise verdecken und für mich eine Art Klangraum ergeben.
Bei einigen Musikwerken sammelte ich mehr Hintergrundinformationen (Entstehungsgeschichte der Komposition, Umfeld, Lebenssituation des Komponisten, usw.), was möglicherweise in die malerische Umsetzung des Gehörten hineinspielte.
Anderseits sind für mich „Tonspuren“ auch Spuren , die beim Versuch entstehen, akustische Ereignisse wie Geräusche, Einzeltöne, Tonfolgen, Zusammenklänge, Harmonien oder Disharmonien, thematische Entwicklungen, Klangfarben, Takt, Tonalität, usw., die meine neuronalen Netze zu stimulieren vermögen, bildnerisch zu interpretieren - also Versuche, mit malerischen Mitteln auditive Empfindungen ins Visuelle zu transferieren.
„Tonspuren“ sind nicht als „écriture automatique“, aus dem blossen Zufall heraus entstanden, sondern aus dem Zu-Fallen des Gehörten.
Ist dies nun analog zum oft verpönten Begriff aus der Musik „Programmmusik“ „Programmmalerei“ ?
In der Musik gibt es unzählige Beispiele für das umgekehrte Vorgehen, wo also Komponisten bildhaft Erlebtes, Vorgestelltes, Empfindungen, Literatur oder durch Literatur evozierte Bilder als Inspiration in ihrer Tonsprache verarbeiten ohne dabei Programm-Musik zu schreiben, die dem Hörer Anleitungen vorgibt, was zu hören sei (oder genauer gemäss Peter Petersen über Programmmusik: ...Die Hörer sind zu aktivem Mitvollzug aufgerufen, indem sie sich beim Hören der Musik an einen Text erinnern sollen, oder beim Lesen eines Programms sich die gehörte Musik vorstellen können).
Der Begriff Programmmusik dürfte jedoch fliessend sein. In Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung“ sehe ich kein konkretes Bild von Samuel Goldenberg – ich höre eher etwas massig Grosses, in sich ruhendes Übermächtiges in Kontrast zum nervös, schmächtig, ängstlich, ohne geringstes Selbstvertrauen hoffendes und bettelndes Individuum Schmuyle. Die Musik empfinde ich hier nicht als Programm oder als platte Illustration, sondern eher als kreativ mögliche Aufdeckung von Wesentlichem, das unter der Oberfläche einer Begegnung zum Vorschein kommt. Oder – wie hat doch z.B. Schönberg im Auftragswerk in atonaler Musik ein faszinierendes Äquivalent für Girauds Gedichtzyklus „Pierrot Lunaire“ gefunden.
Es scheint verständlich, wenn Beethoven („...mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“), Mahler, Richard Strauss, Schostakovitsch oder andere mehr sich mit Satzbezeichnungen schwertun, abändern oder lieber aus politischen Gründen ganz weglassen, vielleicht auch aus Furcht, dem Rezipienten könnten andere vielschichtige Einflüsse, Empfindungen oder den der Musik inne liegenden, eigengesetzlichen Entwicklungen aus lauter Fixierung auf Benanntes verborgen bleiben. Die Entwicklung einer poetischen Sprache oder eines Textes (ob literarisch, musikalisch, visuell gestaltend,...) basiert in keiner Weise nur auf einem Begriff, wie z. B. eine eben erwähnte Satzbezeichnung. Die historische Entwicklung der Sprache, das Verlangen des Schaffenden, in einer neuen Zeit neue, adäquate Ausdrucksmittel zu finden – seine Lebenssituation, seine Erlebnisse, Erfahrungen, Empfindungen, seine physische und psychische Disposition, das sozioökonomische und politische Umfeld – all dies kann nicht ausgeklammert werden. Auch der „reine Weg“ - das „nicht Mimetische“, auf nichts andere Verweisende, das „Non relational“, die konkrete Poesie oder Malerei usw. können auf eine Haltung, auf einen Zeitgeist, vielleicht auf eine weltverändernde, utopische Heilsversprechung oder mathematische Konzeption verweisen.
Was auch immer den ersten Impuls zum ersten Strich auf dem weissen Blatt und in der Folge zur spielerischen oder auch zweifelbeladenen, intensiven Weiterbearbeitung führt – ist es das „je ne cherche pas, je trouve“, ein blosses Feuern der Synapsen oder der Ausdruck von starken Erlebnissen? Ist es eine Wutreaktion, eine zeitlich beschränkte Revolution des Malewitsch, der mit seinem schwarzen Quadrat nur noch die reine Empfindung will und jede Nähe zur gegenständlichen Kunst vehement bekämpft, im Spätwerk aber wieder zur Zeichensprache eines Renaissance Malers zurückfindet?
Manchmal ist sie einfach da – die erste Spur. Tonspuren kenne ich auch von den visuellen Umsetzungen von Schallereignissen am Rande des analogen Lichttonfilmstreifens oder von digitalen Tonschnittprogrammen am Computer. Mit einem solchen Programm sprach ich das Wort „Tonspur“ in unterschiedlichen Tonhöhen, Betonungen und Tempi ins Mikrofon, betrachte seine grafische Dekodierung am Bildschirm, dehne die Zeitachse (Timeline) und male die sichtbar gewordenen Linien von Frequenz- und Amplitudenausschlägen in starker Vergrösserung aufs Blatt, verwische und übermale .
Andere Tonspuren entstanden indem ich durch meinen CD-Player, auf Endlosschlaufe gestellt, ein Musikstück abspielen liess und hörte und lauschte und lauschte und hörte... bis ich die Farben, Pinsel oder Spachtel und den Rhythmus gefunden habe. In Analogie zu Debussys oft verwendeten Pentatonik und entsprechenden Tonschritten fertigte ich Zahnspachteln mit fünf Zähnen an, deren 4. Zahn gegenüber den andern die doppelte Breite hat. Der Analogieschluss war eigentlich banal, aber er setzte einen Prozess in Gang. Mit der Spachtel war ich gezwungen, schneller zu arbeiten, reagierte so spontaner auf das Musikerlebnis (wie in gewissen Bildern der Serie „PasseVite“ oder „courant d’air“ – das Kratzen in den schnelltrocknenden Industrielack). Schicht für Schicht entstanden Farbtonspuren, die infolge der Zähne, das darunter Liegende nur teilweise verdecken und für mich eine Art Klangraum ergeben.
Bei einigen Musikwerken sammelte ich mehr Hintergrundinformationen (Entstehungsgeschichte der Komposition, Umfeld, Lebenssituation des Komponisten, usw.), was möglicherweise in die malerische Umsetzung des Gehörten hineinspielte.